Axel Hacke


Axel Hacke © Mathias Ziegler

Aus dem Leben eines Kolumnisten

Anders als immer wieder behauptet wird, wurde ich nicht 1956 geboren, sondern war immer schon da. Ich schreibe Kolumnen seit den Zeiten Alarichs des Saumseligen, Wilfrieds des Haarigen oder Childerichs des Chönen, so genau weiß ich es nicht mehr, jedenfalls geht das schon seit Jahrhunderten so. Hier in meinem Archiv gibt es halb zerbröselte Schriftstücke aus dem Mittelhochdeutschen, in denen vom „kolumniman“ oder „kolumnimester axel“ die Rede ist, der regelmäßig etwas verfasse, das den Titel spurucelwurc oder sperucilwirc oder so ähnlich trage, das Wort ist unleserlich. Später heißt es an einer Stelle: „und es versamlet sich viel volcks zu im, also dasz er vor alles volck trat und lasz“, was bedeutet, dass ich schon vor sehr langer Zeit meine Kolumnen auch öffentlich vorgetragen habe.

Auch daran habe ich keine Erinnerung mehr.

Das Kolumnenverfassen ist mir in den Zeitläuften zur Gewohnheit geworden, es gibt meinem Alltag Struktur und meiner Existenz Halt. Es ist schön zu wissen, dass man mittwochs etwas Bestimmtes zu tun hat, jeden Mittwoch, denn Mittwoch ist mein Kolumnentag. Das verleiht so einem Mittwoch eine ganz andere Bedeutung, als wenn er einfach nur ein Mittwoch wäre; so ragt der Mittwoch gleichsam säulenartig aus dem Daseinsmatsch her aus, komme, was da wolle. Mittwoch ist der Tag, auf den ich hin lebe. Und nach dem es eine Weile bergab geht, bis sich der nächste Mittwoch schemenhaft am Horizont abzuzeichnen beginnt.

Ich schreibe in meinem Leben jetzt schon länger Kolumnen, als ich nicht Kolumnen geschrieben habe. Ich habe mich sozusagen selbst überholt, was mir sehr wichtig ist. Jeder sollte sich mindestens einmal im Leben selbst überholen, es ist ein tolles Gefühl, sich aus dem Seitenfenster zuzuwinken, zuzuschauen, wie man zurückbleibt, und dann mit Höchstgeschwindigkeit abzurauschen.

Wie alles begann, ein Vorlebenslauf

Meine erste Kolumne schrieb ich Anfang Januar 1956, kurz bevor ich zur Welt kam, noch im Uterus, unter dem Titel Das Beste aus meinem Vorleben, ein Versuch, mir noch im Dunkel des Mutterbauchs die Welt außerhalb desselben zu erklären. Beispielsweise war ich der Meinung, meine Mutter schlafe Nacht für Nacht neben einer riesigen Maschine, einer überaus lauten Fabrikationsanlage für mir unerklärliche Dinge; tatsächlich aber übernachtete sie, wie ich schon bald erfahren sollte, neben meinem heftig schnarchenden Vater.

Wer beschreibt das Erstaunen der Hebamme, als bei der Geburt statt eines Baby-Kopfes zunächst meine kleine rechte Hand erschien, die ihr ein Manuskriptpapier hinaus reichte!? In jenen Zeiten wurde ja auch vorgeburtlich auf Papier geschrieben, weil es keine Computer und schon gar kein WLan gab, mit dem ich meinen Text nach draußen hätte übertragen können. Gab es damals schon Ultraschallgeräte, auf denen man meine kleine Monica-Schreibmaschine hätte erkennen können?

Ich glaube nicht.

Jedenfalls war die Geburtshelferin geistesgegenwärtig genug, mit meinem Text sofort zur Chefredaktion des Marienstift-Magazins zu eilen, der Zeitschrift des Krankenhauses, in dem wir uns befanden, wissen, dass der Redaktionsschluss kurz bevorstand. Meine Mutter und ich mussten deshalb die Geburt allein bewerkstelligen (Väter waren damals bei Geburten noch nicht zugelassen), was uns einerseits gut gelang, andererseits natürlich das Thema meiner zweiten, nun schon in der Wiege verfassten Kolumne war.

Von da an war mein Lebensweg vorgezeichnet: Ich wurde nicht Kolumnist, ich war schon einer.

Mitleiderregender Lebenslauf

Ich wurde 1956 geboren, im Januar. Ein sehr kalter, harter Winter. Wir lebten in Braunschweig, nahe der Zonengrenze, eine abgelegene Gegend, die Stadt vom Krieg stark zerstört, provinziell im Geist, wirtschaftlich bis heute schwach.

Natürlich gab es genug zu essen, aber das war im Grunde gerade das Schlimme. Ich war ein fettes Kind, darunter leide ich bis heute, diese Fettzellen bleiben einem ein Leben lang, man hungert dagegen an, aber erfolglos. Man hänselte mich wegen meiner Pummeligkeit die ganze Schulzeit lang; das wäre nicht so schlimm gewesen, hätten meine Eltern hinter mir gestanden, aber sie ironisierten das nur, und im übrigen verlangten sie Leistung, Leistung, Leistung.

Ich war ein guter Schüler, aber unglücklich in allem, bin nach der Bundeswehrzeit (eine unfassbar langwierige Quälerei, denn ich bin kein soldatischer Typ, hatte mich aber trotzdem, weil ich Geld benötigte, für fast zwei Jahre verpflichtet), bin also dann nach München zum Studium gegangen. Eine riesengroße Stadt, ich war sehr einsam, brachte das Studium so rasch wie möglich hinter mich, für Frauen war ich ja sowieso zu schüchtern, während um mich herum…

Mein Gott, es waren ja Münchens vitalste Jahre, eine heitere, sinnenfrohe Zeit, nur ich hatte eben nichts davon. Ich trat dann so schnell wie möglich meinen ersten Job an, leider nur Sportredakteur, obwohl ich gerne politischer Redakteur geworden wäre, was ich dann einige Jahre später auch wurde, aber da interessierte es mich schon nicht mehr, weil ich mich nach einem Leben als Reporter sehnte, was dann, als ich es erreicht hatte, den fast nicht zu ertragenden Nachteil des Ständig-Unterwegsseins hatte…

Lebenslauf, nach Thomas Bernhard

Morgens um zehn, während ich, was in dieser Angelegenheit von gewisser Bedeutung ist, noch unter dem Einfluss der vergangenen Nacht und der in ihr nach langer Zeit zum wiederholten Male aufgetretenen Hinterkopfschmerzen, die ich durch die Einnahme dreier mir von meinem Internisten verordneten Tabletten Hechnalblastolon zeitweise erfolgreich zu bekämpfen versucht hatte, stand, rief mich, als ich an meinem Schreibtisch saß, die Schlanghammer an und bat um eine kurze Version meines Lebenslaufes, meiner Vita, wie die Schlanghammer sich ausdrückte, meiner künstlerischen Vita, wie sie zu sagen pflegte, sich der abgeschmacktesten nur denkbaren Formulierung bedienend.

Und ich sagte der Schlanghammer auch noch zu, ihr diese kurze Version meiner künstlerischen Vita bis um die Mittagszeit zu liefern, obwohl doch, was die Schlanghammer hätte wissen können, und was um so mehr auch mir selbst hätte klar sein müssen, das Verlangen nach einer Vita, noch dazu einer künstlerischen Vita, von der die Schlanghammer nun schon seit Jahren mir gegenüber immer wieder und wieder geradezu zwanghaft spricht, mich auf Tage zerstören würde.

Eine Woche lang, so dachte ich an meinem Schreibtisch, in der mir das Vibrato der Schlanghammerstimme als der Inbegriff alles Ekelhaften erschienen war, hatte ich das Telefon gemieden und meine Gehörgänge gegen sein Läuten verschlossen; ausgerechnet jetzt, als ich die mich allmählich stumpfsinnig machende Isolation nicht mehr zu ertragen vermochte und ich der Versuchung nachgab, den Hörer des läutenden Telefones einmal zu ergreifen und endlich wieder eine menschliche Stimme zu hören, um so eine dringend notwendige Geistes- und Körperberuhigung zu erlangen, erreichte mich die widerwärtige und niederträchtige Stimme der Schlanghammerischen mit ihrem abstoßenden Verlangen nach einer künstlerischen Vita.

Aus dem Tagebuch 1956, nach Thomas Mann

Freitag den 20. I. 56
Gegen 20 Uhr Geburt. Geburtskanal langwierig. Die Hebamme Müller zerrt an mir. Vierschrötige Person. Plötzlich gleißendes Licht. Käseschmiere ekelhaft. Kolostrum mit Appetit. In der Nacht noch erste Begegnung mit Vater. Zwiespältigkeit. Erste Windel. Spät erstmals zu Bett.

Sonnabend den 21. I. 56
Früh auf. Mutter erschöpft, aber rasch reagierend auf mein Begehren, gestillt zu werden. Gegen Mittag Besuch Vater, wie immer sehr beherrscht. Plötzliche Sehnsucht nach vorgestern. Nachmittags weitere Verwandtenbesuche, danach seltsamste Empfindungen. Leichte Nabelverstimmung. Drei Windeln. Einiges Nachdenken über M.’s Brüste. Sechsmal gestillt. Früh zu Bett.

Sonntag den 22. I. 56
1/2 6 auf, sogleich gestillt. Viel Stuhl, vier Windeln. Empfinde die Gegenwart zweier anderer Mütter mit Kindern im Zimmer als irritierend. Aufkommende Gelbsucht. Mutter stillt unkonzentriert. Auf dem Weg zum Neugeborenen-Raum singt sie „Das Wandern ist des Müllers Lust“ – was soll das? Viel Schlaf am Nachmittag, nach Besuch Vater dennoch früh zu Bett.

Montag den 23. I. 56
Früh auf, langes Schreien, das ich als befreiend empfinde. Möchte nicht „Dutzi“ genannt werden. Plötzliche Hingezogenheit zur Schwesternschülerin Rosi, deren Berührungen mich auf differenzierteste Weise erregen. Vier Windeln. Angewidert von kalten Händen des Kinderarztes. Besuch Vater nur kurz. Man will mich morgen von hier wegbringen, wohin? Unruhiger Schlaf am Nachmittag, träume von gewaltigbedrohlichen Brüsten. Herzhaftes Schreien. Früh ohnmachtsartig zu Bett.

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